Der fliegende Spritzguss
– wie REHAU sich mit
Startups weiterentwickelt
Lesedauer: 8 Minuten
Ein Messebesuch, das kann man schon so sagen, hat ein bisschen was von Social Media. Man guckt und guckt. Hakt ab. Ist kurz begeistert – aber eben doch nur kurz. Und dann gibt es diese Momente, in denen weiß man sofort: It`s a Match.
So ging es Stephan Sell 2019 bei der K-Messe in Düsseldorf. Dort hat der REHAU Chemiker die Technologie eines Start-ups aus Dresden entdeckt. Und er wusste: Diese Technik ist wie gemacht für REHAU. ANYBRID, dahinter stecken vier Ingenieure, deren Wurzeln am Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik (ILK) der Technischen Universität Dresden liegen. Michael Krahl, Jan Luft, Michael Stegelmann und Tony Weber. Was die vier entwickelt haben, das kommt einer kleinen Revolution gleich: Ihnen ist es gelungen, die sonst starr stehende Spritzgießmaschine in eine mobile, frei im Raum bewegbare Maschine zu verwandeln. Dadurch lassen sich an bestehenden Formteilen, Profilen, Halbzeugen und Composites nachträglich Funktionselemente wie Dichtungen, metallische Inserts, Verbindungselemente oder Verrippungen für mehr Stabilität anbringen. Das verbindet die Vorteile der Kunststoffverarbeitung mit der Flexibilität der Robotik.
Zahlreiche Möglichkeiten
Bei REHAU gibt es zahlreiche Anwendungen, bei der diese flexible Technik ein Vorteil sein kann. Drei Einsatzmöglichkeiten werden derzeit mit den Divisionen Industrie Solutions und Window Solutions entwickelt. Dass ANYBRID Potenzial für REHAU bietet, das war Stephans Team schon nach dem ersten persönlichen Gespräch klar. Kluge Köpfe haben sich bei REHAU zusammengefunden, um die Technik weiterzuentwickeln: Das Entwicklungsteam Composite um Ahmad Al-Sheyyab, Nils Gerber und Stephan Sell, das Team aus dem REHAU Technikum um Michael Ott und Detlef Thiede sowie die Profis zu New Business Development um Santiago Pardos. Sie alle haben berufsbedingt ein ausgeprägtes Gespür für Innovationen – das Entwicklungsteam Composite etwa gehört zur Abteilung RIT - Research, Innovation and Technologies. Da gehört es also zur Jobbeschreibung, innovative Technologien zu erkennen und ihren Nutzen auf REHAU übertragen zu können. „Mit unserer hauseigenen Expertise können wir Ideen schnell umsetzen. Dabei ist es selbstverständlich, interdisziplinär zu arbeiten. Abteilungsgrenzen gibt es für uns nicht“, sagt Stephan.
Erfolgreiche Versuche
Die gute Idee ist das eine. Sie reicht aber nicht. Ein Plan muss schließlich in der Realität funktionieren. Deswegen haben das Entwicklungsteam und Stephan und sein Team im März 2021 eine umfangreiche Studie mit ANYBRID zu Extrusionsprofilen, Composite Profilen und Composite Formteilen gestartet – und inzwischen abgeschlossen. Erfolgreich. Im REHAU Technikum, dem Ort also, an dem neue Verfahren und Techniken fürs Werk erprobt werden, haben die Forschenden die Technik erstmals direkt in eine Produktionsanlage integriert. Das heißt, technische Profile wurden direkt inline angebracht. Dazu bewegt sich die flexible Maschine von ANYBRID zum Bauteil hin, dockt an und bewegt sich in Richtung der Extrusion mit, während sie das zusätzliche Element aufspritzt. Dafür haben die Entwicklerteams von ANYBRID eng mit den erfahrenen REHAU Mitarbeitenden im Technikum zusammengearbeitet. Das umzusetzen birgt nämlich Herausforderungen. Die Parameter aus der Extrusion müssen mit denen des Spritzgießens zusammengebracht werden. Es ist wichtig, die Geschwindigkeit der Produktionslinie mit der des aufzuspritzenden Teils abzugleichen. Das ist nicht einfach, zum Beispiel muss die Abkühlzeit des überspritzten Elements mit einberechnet werden.
Lust auf mehr
Der Aufwand jedoch lohnt sich. Denn die Technik bietet gleich mehrere Vorteile: Sie ermöglicht sogenannte Monomaterialsysteme, also Produkte, die zum Beispiel aus ein und demselben Kunststoff bestehen. Schritte wie Kleben entfallen. Das macht die Produkte einfacher zu recyceln und die Produktion schneller. Die Verbindungen, die Robin – so heißt der ANYBRID Spritzgussroboter – hergestellt hat, haben sich in den Versuchen als stabil erwiesen. Nicht nur in Monomaterialsystemen, sondern auch bei verschiedenen Kombinationen mit zum Beispiel metallischen Inserts oder Dichtungen. Doch die Vorteile sind noch umfassender: Robin spart Kosten. Der Einsatz des kleinen Spritzgussroboters, der nur 140 Kilogramm wiegt, ermöglicht den Verzicht auf große, teure Werkzeuge. Auch der logistische Aufwand sinkt, da Profile nicht mehr zu Spritzgussmaschinen hinbewegt werden müssen. „Wir haben gezeigt, dass in unseren Extrusionslinien Kosten reduziert, Produktivität gesteigert und Flexibilität erhöht werden kann“, sagt Stephan und beruft sich dabei auf die Ergebnisse der Teamarbeit. Glasklar also: REHAU und ANYBRID bauen ihre Kooperation in den kommenden Monaten aus. „Wir wollen weitere Einsatzbereiche ausfindig machen, auch über die Extrusion hinaus“, sagt Stephan. ANYBRID profitiert vom starken Partner REHAU an seiner Seite. „Wir sind stolz auf die Ergebnisse der umfangreichen Versuche im REHAU Technikum. Die Ergebnisse machen Lust auf mehr“, sagt Michael Stegelmann von ANYBRID. Die breite Palette an Produkten, die REHAU fertigt, eröffnet riesiges Potential: Der Einsatz bei anderen Werkstoffen ist möglich. Holz, Metall, Komposite. Möbel, Bauwaren, Industriehalbzeuge – an Ideen mangelt es den Ingenieurinnen und Ingenieuren bei REHAU nicht, um die ANYBRID Technik weiterzuentwickeln. „Die Anhaftung bleibt bei allen Anwendungen unsere größte Herausforderung, um guten Formschluss zu erzeugen“, sagt Stephan.
Weiter geht's!
Sie tüfteln also weiter. Und halten die Augen offen. Das RIT Team hofft, in diesem Jahr wieder persönlich zu einigen Messen fahren zu können. Vielleicht bringen sie von dort ja schon die nächste, kleine Revolution mit, bei der sie wissen: It’s a Match!